Zur Umsatzsteuerpflicht medizinischer Leistungen

 

S. Allert, HD Axmann, J. Bruck

 

A.
Aus medizinischer Sicht sind alle Tätigkeiten eines Arztes uneingeschränkt Heilbehandlungen im Bereich der Humanmedizin und unterliegen damit nicht der Umsatzsteuerpflicht. Die medizinische Sicht entspricht aber nicht der Sicht der Finanzbehörden. Grundlage der folgenden Erörterungen sind gesetzliche Regelungen und deren Interpretation durch die Finanzbehörden, die nolens volens zu einer Veränderung der Wahrnehmung der Tätigkeiten eines Arztes geführt haben.

B.
In § 4 Nr. 14 des Umsatzsteuergesetzes hieß es lange, dass die Tätigkeit eines Arztes von der Umsatzsteuer befreit sei. Aus medizinischer Sicht sind damit alle heilberuflichen Leistungen gemeint, die ein Patient in Anspruch nimmt. Über Jahrzehnte wurde dieser „Befreiungsparagraph“ einheitlich umgesetzt. Auch europaweit wurde seit der 2. Hälfte der 70iger Jahre zunächst einheitlich vorgegangen. So wurden Heilbehandlungen der Humanmedizin, die im Rahmen der Ausübung des von dem betreffenden Mitgliedstaat definierten ärztlichen und arztähnlichen Berufs erbracht werden, von der Steuer befreit. In zahlreichen Veröffentlichungen finden sich dazu Definitionen etwa wie: „Heilbehandlungen in diesem Sinne sind Tätigkeiten, die zum Zweck der Diagnose, der Behandlung und soweit möglich der Heilung von Krankheiten oder einer anderen Gesundheitsstörung bei Menschen vorgenommen werden und damit dem Schutz der menschlichen Gesundheit dienen“.
Die einheitliche Verwaltungspraxis wird allerdings durch die Vorstellung der Finanzbehörden sowie der Rechtssprechung nationaler und EU-weiter Institutionen, bestimmte Leistungen von Ärzten mit Umsatzsteuer zu belasten, aufgelöst. So wird steuerrechtlich postuliert, dass Maßnahmen aus dem ästhetisch plastischen Leistungskatalog – auch wenn sie von Angehörigen eines Heilberufes durchgeführt wurden – nicht im Sinne der oben genannten Befreiungsnormen (ärztliche Tätigkeit, Heilbehandlung) zu bewerten sind. Eine verbindliche Definition des Umfangs dieses Leistungskataloges besteht ebenso wenig wie die des Begriffs „ästhetischer Eingriff“ (siehe unter C). Ausgelöst durch europarechtliche Änderungen und Interpretationen nationaler und EU-weiter Regelungen sowie durch diverse Urteile wurde aber dann 2009 der Wortlaut des deutschen § 4 UStG den europarechtlichen Vorgaben angepasst.

 

C.
Der europäische Gerichtshof, der Bundesfinanzhof sowie Länderfinanzgerichte orientieren sich bei der Bemessung der Umsatzsteuerpflicht neben der Maßgabe, dass Tätigkeiten zur Diagnosebehandlung und Heilung von Krankheiten oder Gesundheitsstörungen vorliegen müssen, auch an dem Begriff des therapeutischen Ziels. Daneben wird betont, dass ärztliche Leistungen dann steuerbefreit sind, wenn diese zum Zwecke der Vorbeugung von Krankheiten und Gesundheitsstörungen vorgenommen werden. Aus den 2005 geänderten Umsatzsteuerrichtlinien ergibt sich, dass ästhetisch-plastische Leistungen steuerpflichtig sind, soweit ein therapeutisches Ziel nicht im Vordergrund steht. Indiz für ein therapeutisches Ziel kann die Kostenübernahme durch eine Krankenversicherung sein.
Diese können allerdings allenfalls hinweisgebend sein. Denn bei den heute üblichen vollkommen unterschiedlichen Ausgestaltungen von Versicherungsverträgen bzw. Leistungsumfängen der allgemeinen und privaten Krankenversicherungen und Beihilfestellen kann keinesfalls zwangsläufig der Schluss auf eine medizinische Indikation dann gezogen werden, wenn eine Kostenerstattung seitens der Krankenkasse erfolgt. Auch sind zunehmend Leistungen, die der Diagnose, Linderung und Behandlung von Krankheiten dienen und vormals selbstverständlich im Leistungskatalog der Kassen verankert waren, heute keine Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung mehr. Diese finden sich dafür bei den „Individuellen Gesundheitsleistungen“ wieder, sind deswegen aber nicht weniger medizinisch indiziert.
Es bleibt also zu prüfen, ob es sich um eine Heilbehandlung wie oben aufgeführt handelt, unabhängig davon wie eine Krankenversicherung dazu steht.
Dabei ist die Plastische Chirurgie im Spannungsfeld zwischen Wiederherstellung und Ästhetik angesiedelt. Die Plastische Chirurgie vertritt vier Teilbereiche: Die rekonstruktive Chirurgie, die Verbrennungschirurgie, die Handchirurgie sowie die ästhetisch-plastische Chirurgie. Es dürfte unstrittig sein, dass alle Maßnahmen innerhalb der rekonstruktiven Chirurgie, der Verbrennungschirurgie und der Handchirurgie medizinisch und steuerrechtlich indiziert sind im Sinne einer Vorbeugung, Diagnostik, Behandlung oder Heilung einer Krankheit.
Eine rechtswirksame Definition des Begriffs „ästhetischer Eingriff“ besteht nicht. Allein die Eingriffe zur Wiederherstellung einer weiblichen Brust (Brustverkleinerung, Brustvergrößerung, Brustaufbau) und deren vollkommen unterschiedliche Bewertung durch Finanzbehörden oder Gerichte zeigen dabei schon die Schwierigkeiten zur Abgrenzung möglicher umsatzsteuerbewehrter ästhetisch-plastischer Leistungen auf. Denn naturgemäß können viele der Techniken der Wiederherstellungschirurgie auch dazu dienen, ästhetisch-plastische Leistungen im Sinne der oben genannten Umsatzsteuerrichtlinien zu erbringen. So gehört es eben auch zur plastisch-chirurgischen Heilkunst, durch eine Operation ein möglicherweise noch drohendes körperliches und psychisches Leiden abzuwenden. Sollte neben anderen Kriterien (siehe D.) ein solches therapeutisches Ziel nicht vorliegen, wäre die Maßnahme im Sinne der Umsatzsteuerrichtlinien steuerpflichtig.

 

D.
Eine medizinische Indikation ergibt sich auch durch den internationalen Katalog der Krankheiten der von der World Health Organisation (WHO) herausgegeben wird. Der aktuell in der 10. Auflage vorliegende Katalog listet alle physischen und psychischen Krankheiten und Gesundheitsstörungen auf, aus deren Behandlung sich die Kriterien der heilbehandelnden Tätigkeit sowie des therapeutischen Ziels ergeben. Über die ICD 10 Kodierung einer Krankheit kann nur der behandelnde Arzt entscheiden.
Erfolgt also eine ärztliche Leistung zur Vorbeugung, Diagnostik, Behandlung oder Heilung einer in diesem Katalog aufgeführten Krankheit, liegt zwangsläufig eine medizinische Indikation vor. Ansonsten könnte nicht von einer Krankheit gesprochen werden bzw. nur von einer Behandlung im umsatzsteuerrechtlichen Sinne, bei der folglich Umsatzsteuerpflicht bestünde. Darunter könnten z.B. Leistungen fallen, die dem Bereich „Körperschmuck“ zuzurechnen sind, wie Piercing, Bleaching, Veneers, Permanent Make Up. Auch Maßnahmen der Faltenkorrektur wie Unterspritzungen können dazu zählen, wenn man annimmt, dass Altern per se zunächst keine Krankheit ist.

 

E.
Aus medizinischer Sicht sind die Gerichtsentscheidungen des Bundesfinanzhofes, des Bundesverfassungsgerichts sowie der europäischen Gerichte einerseits sowie deren Anwendung durch die Finanzbehörden andererseits diesbezüglich nicht immer einheitlich, schon gar nicht haben sie dazu geführt, dass sowohl Plastische Chirurgen als auch die Finanzverwaltung hinsichtlich der umsatzsteuerpflichtigen Leistungen zu einer Vereinheitlichung oder Rechtssicherheit gelangt sind. Obwohl bundeseinheitlich in den Umsatzssteuerrichtlinien 2005 sinngemäß niedergelegt wurde, dass nach § 4 Nr. 14 UStG ästhetisch plastische Leistungen dann steuerfrei sind, wenn ein therapeutisches Ziel im Vordergrund steht, werden die Bewertungen vorgeblich nicht medizinisch indizierter Leistungen von Bundesland zu Bundesland uneinheitlich vorgenommen. Ebenso erfolgt auch der zeitliche Umfang der Prüfungen nicht nach einem einheitlichen Muster (gilt z.B. der Vertrauensschutz bei langjähriger Verwaltungsausübung für alle Umsätze aus der „Tätigkeit als Arzt“ bis zur 2009 im Jahressteuergesetz erfolgten Neufassung des § 4 oder macht die Forderung des BFH 2004 zur medizinisch fachlichen Differenzierung ästhetisch chirurgischer Maßnahmen, niedergelegt in den Umsatzsteuerregelungen 2005 eine Übergangsregelung bis 2009 notwendig?).
Zudem liegt beim Gerichtshof der Europäischen Union unter dem AZ C-91/12 ein Vorabentscheidungsersuchen aus Schweden vor, ob die Mehrwertsteuerrichtlinie der EU vom November 2006 Befreiungstatbestände für Leistungen umfasst, die ästhetische Operationen und ästhetische Behandlungen darstellen. Diese Aktivitäten aus Schweden sorgen derzeit dafür, dass USt-Verfahren zumindest vor dem Niedersächsischen Finanzgericht ruhen.

 

So oder so bleibt es aus medizinischer Sicht bei einer von Fall zu Fall erneut notwendigen Einzelfallprüfung medizinischer Leistungen anhand steuerrechtlicher Vorgaben. Als Ärzte führen wir grundsätzlich dann umsatzsteuerfreie Tätigkeiten durch, wenn die zugrunde liegenden Befunde der ICD 10 Klassifikation entsprechen. Auch wenn die Finanzbehörden monieren, „dass dann ja alles umsatzsteuerfrei bleibe“, dürfen wir uns nicht dazu hinreißen lassen, die steuerrechtliche Definition unserer Tätigkeit zum Prüfmaßstab zu machen.